Ich las meine Rede vor. Warum wusste ich nicht; es gab nur zwei in der Halle, sie und ich; und sie konnte bestimmt nicht hören. Niemand sonst war da, warum?
Ich war fast fertig, als eine Frau ankam. Kannte ich diese Frau? Ja, langsam, war es mir klar. Es war Helga, ihre Tochter Helga.
Ich wiederholte die Rede, ein paar Minuten Andacht. Ich drückte die Taste und sie verschwand langsam durch die Gardinen.
Außerhalb des Krematoriums sprach ich zu Helga, Hallo Helga! Ich freue mich, dass du hier bist, auch wenn es traurig ist.
Meine Mutter, meine Mutter, Helga seufzte.
Sie, Sie sind ein Freund meines Bruders, oder waren?
Ja, das war ich. Es ist lange her. Ich glaube er ist schon tot. Aber ich bin nicht sicher. Deine Mutter hat nicht viele Verwandte, fast alle sind tot. Deine Adresse hatte ich nicht. Ihre Freunde, auch nicht viele, sind alle tot. Deine Mutter war ziemlich alleine, sie wollte es so. Sie sprach nie mit den Nachbarn.
Sie, ich meine, du kanntest sie gut? Wohnte sie immer in der Nordstraße?
Oh, ja! Geboren und gestorben, oder fast gestorben, im gleichen Haus.
Ich würde gerne mein altes Zuhause nochmal von Außen sehen.
Oh, Helga! Wir könnten reingehen – ich habe einen Schlüssel.
Ja?
Ich hatte immer einen Schlüssel.
Das kleine Haus in der Nordstraße roch wie es immer roch; nur sie war nicht da; aber mir fehlte nichts, warum?
Oh, sagte Helga, es ist alles gleich, wie vor dreißig Jahren. Ja, vor dreißig Jahren war es. Ich wollte weg und ich kam nie wieder zurück, bis heute.
Deine Mutter wollte nichts ändern – die Bilder hängen wo sie immer hingen. Es ist alles dunkel und ein bisschen schäbig. Aber ich dürfte nichts ändern.
Helga wollte alles über ihre Mutter wissen.
Eine Nachbarin sah deine Mutter liegend im Garten und rief mich an. Blöd! Der Notdienst hat die Nummer 112. Aber es war zu spät.
Ja, ja. Dein Vater arbeitete so hart, aber er war krank, sehr krank. Er starb kurz nachdem er in die Rente ging. Die Bestattungskosten bezahlte ich auch.
Dein Bruder ging auch weg, kurz nach dir. Wohin weiß ich nicht. Ich hatte andere Interessen.
Welche?
Deine Mutter.
Meine Mutter?
Ja, deine Mutter.
Meine Mutter erzählte dir vieles über ihr Leben?
Oh, nein! Sie sagte wenig, fast gar nichts. Ich war hier jeden Dienstag, Vormittags, aber sie sprach kaum, manchmal überhaupt nicht. Sie wollte nur ein Ding von mir.
Jeden Dienstag?
Ja, und wenn ich nicht konnte, musste ich zweimal in der nächsten Woche kommen. Nachdem ich meine Frau und Kinder in Urlaub nahm, musste ich dreimal oder viermal kommen.
Wusste deine Frau davon?
Ich glaube ja, aber sie sagte nichts, ich kümmerte mich immer um sie und die Kinder. Sie starb vor vier Jahren, ich habe drei Töchter, zwei Söhne und mehr Enkelkinder als ich zählen kann.
Meine Gedanken waren woanders. Warum fehlte mir Helgas Mutter nicht? Warum? Ich hatte das komische Gefühl, das ich oft in diesem Zimmer habe, dass die Wände zu mir sprechen. Plötzlich wusste ich, aber Helga fing an zu reden.
Sehe ich aus wie meine Mutter?
Oh ja! So sah sie aus in deinem Alter, nur du bist ein bisschen größer und gesünder, besser ernährt als Kind wahrscheinlich.
Wann sahst du Mutti zuletzt? Ich meine lebendig.
Oh, letzte Woche wie üblich. Es ging ihr nicht so gut, aber sie sagte nichts. Sie wusste Bescheid, sie gab mir einen Ring, sehr hübsch, sie brauchte ihn nicht mehr, sie wusste Bescheid.
Oh, der Ring! Oh ja, so hübsch! Als Kind wollte ich den Ring tragen. Einmal durfte ich das tun.
Ich nahm ihre Hand in meine, ich setzte den Ring auf ihrem Finger. Ich glaube sie wusste was es bedeutet.
„Ja!“ sagte sie. „Ich sage ja!“
Du siehst aus wie sie.
Du siehst aus wie sie.