Erzählungen

Ich bin am Ende des Monats eingeladen.

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Copyright © 2015, Michael M Wayman


Es ist November, ich bin am Ende des Monats eingeladen, ein Advents­essen, Gänse­braten. Was soll ich mitbringen, ich hatte und habe keine Ahnung, soll ich jedem eine Geschichte, eine Erzählung schreiben?

Kann ich genug neue Geschichten schreiben? Die müssen glückliche Erzählungen sein. Wahrscheinlich nicht, aber ich kann existierende nehmen und sie umschreiben. Zuerst die Einführung:


Einführung

Der Zug war stehen geblieben, auf einer Brücke, zwischen zwei Tunneln und in einem Funkloch. Es war ein sehr schneller Zug, aber wir alle hatten den Eindruck, dass es lange dauern würde, bevor wir weiter fahren könnten.

Es gab keine Durchsage, es kam kein Zugbegleiter, es könnte Stunden dauern. Was tun? Einer sagte, dass jeder eine Geschichte erzählen sollte, wie in den Canterbury Tales.

„Dann, fang mal an!“


Nottinghams Erzählung

Es war dunkler geworden, die Tage waren kürzer, es war kälter, das war in Ordnung findet er, es war Winter. Aber die Beleuchtung, die kleinen Lämpchen, die waren unmöglich. Na ja, es gab auch was Besonderes zu dieser Jahreszeit – Winter Warmer – und er wärmt durch, und zwar von innen.

Hier und da steht ein Baum bzw. ein Busch, harmlos obschon ohne Blätter, aber am nächsten Tag wurde das Ding plötzlich mit kleinen Glühbirnen herausgeputzt, einfarbig oder bunt. Und damit sieht das Ding nicht nur hässlich aus, sondern auch unmöglich.

Nottingham war den ganzen Tag beschäftigt, er trabte langsam immer wieder um die Koppel herum mit kleinen Kindern auf seinem Rücken. Er war immer langsam, denn er hatte sehr kurze Beine, alle Kinder haben auf ihm das Reiten gelernt.

Später hatte er sich im Damenklo versteckt. Die Sache war schwarz-weiß, er war klein und weiß mit sehr kurzen Beinen, Lancelot war sehr groß und schwarz und böse, sehr böse. Und der Eingang zum Damenklo war eng, nur breit genug für Nottingham.

Es gab Pferde und es gab Menschen. Nottingham mochte die Pferde nicht, besonders Lancelot. Er war sich nicht sicher, aber er war wahrscheinlich ein Mensch, obwohl er vier Beine hatte.

Es war Zeit, es wurde dunkel, die Arbeit getan. Nottingham lief den Kanal entlang und ignorierte die blöden kleinen Lämpchen, er wusste, dass sie irgendwann verschwinden würden, genauso plötzlich wie sie aufgetaucht waren.

Die Dorfkneipe war nicht weit weg, Nottingham ging nicht hinein, es war zu klein und eng. Er hatte es einmal probiert und musste rückwärts raus – sehr peinlich. Im Biergarten war viel Platz, auch mit vielen Menschen sogar im Winter.

Einer holte den Eimer und goss ein Bier und etwas Leitungswasser ein und stellte den Eimer auf einem der Holztische ab. Nottingham wusste was zu tun.

Es war Winter Warmer, das Weihnachts­bier, Nottinghams Favorit.

Nach fünf Eimern ging Nottingham nach Haus. Jetzt kam der schwierige Teil:

Nicht in das Kanalwasser hineinfallen.


die Erzählung des Ingenieurs

Es kostet viel, und es stinkt. Einer hat herausgerechnet, dass jederzeit bis zu 5% der Bevölkerung in Super­märkten verloren gehen. Und nicht nur in Super­märkten, auch in Baumärkten, Haustier­futtermärkten und Warenhäusern.

Die Verlorenen in Super­märkten könnten zumindest was essen, die in Haustier­futtermärkten vermutlich auch, aber die anderen...das ist sehr unhygienisch. Und es hat was gekostet, die waren nie an der Kasse, und das bedeutet verlorenen Umsatz.

Meine Firma hat den Auftrag gekriegt, das Problem zu lösen. Die erste Idee: Wir haben in einem Test­supermarkt überall viele Schilder aufgestellt mit dem Wort KASSE bzw. AUSGANG und mit einem Pfeil. Es hat nicht geholfen.

Wir haben Schilder in verschiedenen Farben ausprobiert – es hat nichts gebracht. Wir haben die Pfeile in die falsche Richtung gesetzt – eine kleine Verbesserung der Situation.

Nein, Schilder waren nicht die Lösung. Grund: Zu viele in der Bevölkerung sind blind oder können/wollen nicht lesen; wie in „Können Sie mir das vorlesen, ich habe meine Brille vergessen.“

Nächste Idee: die Überwachungs­kameras. Wir haben wochenlang die Aufnahmen von den Kameras angeguckt und Software geschrieben, die bestimmte Bewegungs­muster feststellen. Zwei Muster haben uns Hoffnung gemacht: der KREISER und der STERNER. Der KREISER läuft immer im Kreis und kommt nicht weiter. Der STERNER will weg, aber geht immer zurück zu einem bestimmten Punkt.

Aber es war nicht genug. Der Durchbruch war eine Kombination aus Bewegungs­muster und Gesichts­ausdrucks­erkennung.

Ja, Sie kennen viele mit dem Gesichts­ausdruck vom Typ BLANKO-BLANKO, aber in Kombination mit dem Bewegungs­muster „geht immer zu einem bestimmten Punkt zurück“ ist eindeutig – ein Verlorener.

Die neue BLANKO-STERN-Software ist sehr erfolgreich; die Überwachungs­software identifiziert die Verlorenen, Roboter bringen sie zur Kasse und schießen ihnen unterwegs einen RFID-Tracking-Tag in den Hintern. Vorsprung durch Technik.


die Erzählung des Londoners

Ich glaube nicht an Geister. Ich kann sie nicht sehen. Komische, altmodische Ideen. Aber ich kann mich an irgendwas erinnern, nur mein Gedächtnis ist nicht so gut. Als ich ein junger Mann war, 21 oder 22, bin ich nach Edinburgh für ein Vorstellungs­gespräch gefahren.

Ich habe den Nachtzug von Kings Cross in London nach Waverley in Edinburgh genommen, 600 km im Schlafwagen. Das Interview war vormittags; ich habe die Stelle nicht bekommen.

Mein Nachmittag war frei, spätabends wollte ich den Nachtzug zurück nach London nehmen. Ich lief die Princes Street entlang, über die Golden Mile und entdeckte den Grassmarket. Ich beschloss, bis zum Schloss zu klettern. Der Weg war steil, und es war bitterkalt, es war Januar.

Ich wurde von einer jungen Mutter begleitet, die jünger als ich schien. Sie hatte ein sehr kleines Baby im Arm, obwohl es so kalt war. Der Weg wand sich bis zur Spitze hoch, wo das Schloss liegt. Sie sprach mich an und erzählte mir von ihrem Leben; sie sprach anders als ich. Sie war sehr altmodisch gekleidet. Ihr Mann war Soldat in der Schloss­kaserne und sie wollte ihn dort treffen.

Es war saukalt, es fing an zu schneien. Wir erreichten den Gipfel und ich sah mich um – sie war einfach weg. Es hat seit 1915 keine Soldaten in der Kaserne gegeben.

Eine wahre Geschichte.


die Erzählung des Verrückten

Es war nicht in Ordnung, irgendwas war falsch oder sogar kaputt. Es war nicht sein Schatten, er war immer noch da, so dunkel wie immer. Er hatte irgendwann eine Fabel darüber gelesen, wie Leute ihren Schatten verlieren. Nein, das war es aber nicht.

Er zählte seine Finger, doch, alle zehn in verschiedenen Größen. Er zog seine Schuhe aus, um seine Zehen zu überprüfen. Ich muss wahnsinnig sein, dachte er. Und auf einer Reißzwecke bin ich auch nicht getreten.

Ich muss einen Spiegel finden, ob mein Gesicht noch meins ist. Das war es, aber er hatte die Ahnung, dass seine Füße nicht bis zum Boden reichten. Er wusste, dass es viele Leute gab, die ihre Köpfe in den Wolken haben, aber mit Sicherheit war er nicht einer davon. Er trat auf eine Reißzwecke – es tat weh – das war in Ordnung – er hatte Bodenkontakt.

Soll ich zu meinem Hausarzt gehen, oder zu einem Medizin­mann? Fehlt mir was? Ich habe kein „Tritt mich!“ Schild auf meinem Rücken, ich trage die Unterhose nicht über meiner Hose und auch nicht über meinem Kopf. Ich trage nicht meinen Pyjama und meine Nase ist nicht rot und elektrisch beleuchtet.

Was stimmt nicht mit mir, was ist los, was muss ich tun? Ich werde verrückt.

Am nächsten Tag war es nicht schlimmer, aber auch nicht besser. Er hatte eine Idee, er sollte irgend­etwas tun, er könnte absichtlich irgend­etwas durch­einander bringen, in der Hoffnung, dass er dann genau und exakt wusste, wo die Unrichtigkeit liegt, würde er nicht verrückt.

Sollte ich einen Finger abschneiden oder eine große Tüte über meinen Kopf stülpen? Nein, keine Unanständig­keit mit meinen Unterhosen und lass meine Nase in Ruhe. Aber ich möchte nicht, dass alle Leute mich anschauen und lachen.

Ich weiß, ich trage eine Frankenstein-Monster-Maske und dann werden alle mich ignorieren.


Weitere Erzählungen:
die Erzählung des Ermordeten
die Erzählung des Domherrn
Jennffers Erzählung
Angelas Erzählung
die Erzählung des Ausländers
Walfredas Erzählung
Nottingham's Xmas Tale
the Toddler's Tale
the Robot's Tale
the Horse's Tale


Diese Geschichten sind Magret gewidmet.